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Das besondere Projekt

Das besondere Projekt

„Wollen Sie mich nicht auch fragen, was Glück ist?“ möchte Terhas Andezion am Ende des gemeinsamen Gesprächs wissen. Na klar, das will man doch wissen. Also? „Was mich glücklich macht …“ – und dann sprudelt es aus ihr heraus.

Integration als praktizierte Lebenshilfe 

Die Projektleiterin ist einfach froh darüber, dass es „ihrem“ Projekt gelungen ist, so vielen Frauen mit Migrationshintergrund eine berufliche Perspektive im Leben zu bieten. Die Frauen hätten durch das Projekt ein Selbstbewusstsein entwickelt und gingen nun mit einer starken und aufrechten Haltung durch das Leben.

Das Projekt? Hat einen langen, etwas sperrigen Namen: „Sozialwirtschaft integriert – Qualifizierungsperspektiven für Migrantinnen“. Und ist, da sind sich alle Beteiligten einig, erfolgreich wie kein anderes, wenn es darum geht, Migrantinnen in der Arbeitswelt zu integrieren.

Das drückt sich in Zahlen aus. Seit 2018 ist das Projekt am Start, Andezion, die 1990 aus Eritrea nach Deutschland kam, leitet es seit März 2019. Seit 2018 haben 242 Frauen teilgenommen. 98 von ihnen wurden in eine Ausbildung vermittelt, 30 Frauen haben feste Jobs bekommen. Womit das am Anfang erklärte Ziel, insgesamt 50 Migrantinnen zu vermitteln, mehr als erreicht wurde.

Der Erfolg hat ein System

Denn das Projekt ist nicht nur eine Mischung aus Berufsorientierung, Sprachvermittlung und Ausbildung – sondern es ist praktizierte Lebenshilfe. 

Einmal die Woche hat jede Teilnehmerin eine Stunde Coaching. Und die Coachinnen – insgesamt sind es etwa 30 – motivieren die Frauen, stärken ihr Selbstbewusstsein, helfen beim Ausfüllen von Dokumenten, kümmern sich ums Leben. So wie im Fall einer Teilnehmerin, die nicht genug Geld hatte, um ihr Kind ab sieben Uhr in einen Kindergarten zu schicken – was einen Aufpreis bedeutet. Die Coachin kümmerte sich – Kind im Kindergarten, Mutter weiter im Projekt. 

Das mit dem Selbstbewusstsein geht sogar so weit, erzählt Terhas Andezion, dass einige Teilnehmerinnen es schaffen, sich aus tradierten Rollen zu lösen, sich gegen ihre Familie durchsetzen und ihren eigenen Weg gehen. Eine habe sich sogar gegen eine von der Familie geplante Hochzeit entschieden und die Verlobung aufgelöst.

Das Projekt hat einen absolut logischen Aufbau. Es beginnt mit einer dreimonatigen Berufsorientierung – man muss ja schließlich herausfinden, ob eine der Frauen in einen Pflegeberuf will oder etwas Kaufmännisches machen möchte. Danach gehen manche in den Hauptschulabschlusskurs – Hauswirtschaft, Altenpflegehilfe, Sozialassistentin, generalistische Pflegeausbildung und Erzieherin sind die Ausbildungsvarianten, von unterschiedlicher Dauer.

Und ganz oben steht das Erlernen der deutschen Sprache. B1 – so heißt das Mindestziel. Wieder ein bürokratischer Begriff – dahinter verbirgt sich ein Sprachniveau, das für einen Hauptschulabschluss reicht und Einstiegsvoraussetzung für die Ausbildung zur Altenpflegehelferin ist.

Selam Semere Ghilazg

© Harry Soremski

„Ich bin alleinerziehend – und für mich war es schwierig, zu überlegen, was für eine Ausbildung ich machen könnte, ohne ein Zeugnis vorzeigen zu können. Das Jobcenter hat mir dann das Projekt angeboten. Und jetzt will ich erst einmal den Hauptschulabschluss machen. Ich bin sehr zufrieden.“

Selam Semere Ghilazg ist 32 Jahre alt, hat eine sechsjährige Tochter und ist ledig. Sie kommt aus Eritrea, ist seit 2009 in Deutschland. In Eritrea hat sie als Elektrikerin gearbeitet. Seit April 2021 ist sie im Projekt und macht einen 18-monatigen Kurs zum Hauptschulabschluss.

Nasrin Omar

© Harry Soremski

„Ich wusste nicht, wie ich mich integrieren könnte. Aber es war dann alles neu, das Leben war sehr schwer für mich. Ein Freund hat dann von diesem Projekt erzählt und ich habe mich beworben. Dieses Projekt hat mir so viele Türen im Leben geöffnet, die ich allein nie aufbekommen hätte. Ich kann einfach nur Danke sagen für alles!“

Nasrin Omar ist 36 Jahre alt, verheiratet und hat drei Kinder (fünf, neun und zwölf Jahre alt). Sie kommt aus Syrien, ist seit 2015 in Deutschland. Sie hat in ihrer Heimat Abitur gemacht, studiert und als Lehrerin gearbeitet. Im Projekt ist sie seit Mai 2020 und macht eine Ausbildung zur Erzieherin.

Nasrin Omar hat immer nur eine kurze Nacht. Sie hat in Syrien als Lehrerin gearbeitet und hat sich durch das Projekt neue Ziele in Deutschland gesetzt. Sie steht jeden Morgen um vier Uhr auf. Weil sie in Ruhe die deutsche Sprache lernen will. Das A und O bei der Integration, weiß sie. Sie lädt sich Youtube-Videos herunter, macht Sprachübungen. Auch schriftlich. Als sie das Sprachlevel B1 erreicht hatte, wollte sie sich eigentlich ein wenig darauf ausruhen. Doch im Coaching war klar: Ausruhen geht gar nicht. Weitermachen war angesagt. Ziel: „Ich kann besser meine Kinder erziehen – und vielleicht auch Karriere machen.“

Ellen Opoku Awotwi

© Harry Soremski

„Ich wollte schon immer in der Pflege arbeiten – aber ich wusste nicht, wo ich in Deutschland anfangen konnte. Das war ja alles auch nicht einfach und manchmal hat man wegen der Hautfarbe ein Problem. Aber mein Coach hat mit mir immer Lösungen gefunden, ich habe nicht aufgegeben und weitergemacht. Dank dem Projekt bin ich jetzt ein Vorbild für meine Kinder.“

Ellen Opoku Awotwi ist 32 Jahre alt, hat drei Kinder (vier, sechs und sieben Jahre alt) und lebt in einer Partnerschaft. Sie kommt aus Ghana, ist seit 2011 in Deutschland und hat einen Realschulabschluss. Im Projekt ist sie seit Juli 2020 und macht seit Oktober 2020 eine Ausbildung zur Pflegefachfrau.

Das Projekt leistet  einen Beitrag zur Fachkräftegewinnung

Bürgermeisterin Ilona Friedrich – die Initiatorin des Projektes, sieht den Kurs der Stadt in mancher Hinsicht bestätigt: „Vor allem leistet das Projekt einen wesentlichen Beitrag zur Fachkräftegewinnung in der Sozialwirtschaft“. Vor Beginn des Projekts habe Kassel ein Defizit bei der Integration von Migrantinnen auf dem Arbeitsmarkt gehabt. Dies habe sich gewaltig geändert. Und sie sieht einen wichtigen Baustein eben bei der Arbeit der Coaches. Die im Übrigen auch dann, wenn Frauen eine Arbeit aufgenommen haben, diese noch ein halbes Jahr betreuen können. Viele sind es nicht, die aussteigen – aber manche heiraten, werden schwanger, ziehen in eine andere Stadt oder schaffen es aus gesundheitlichen Gründen nicht.

Ilona Friedrich leitet seit November 2017 als Bürgermeisterin das Dezernat II für Bürgerangelegenheiten und Soziales.

© Harry Soremski

Aber gerade die Arbeit der Coaches macht das Projekt teuer. Seit 2018 wird es vom Land Hessen gefördert. Also war die Finanzierung bis 2022 gesichert. 2021 hat die Stadt sich wieder beworben, denn den Etat, aus dem es finanziert wird, gibt es noch. 7,5 Millionen Euro stellt das Land zur Verfügung. Beworben haben sich viele, insgesamt wurden Förderanträge über 44 Millionen Euro eingereicht. Kassel erhielt einen Zuschlag – das Land zahlt ca. 1,5 Millionen, etwa 20 Prozent der Fördergelder fließen in das Kasseler Projekt. Das deshalb bis 2025 gesichert ist. Und das ist der nächste Grund, warum Terhas Andezion glücklich ist.