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Das Rätsel um „Tante Olga“

Das Rätsel um „Tante Olga“

Wenn über die in Kassel verbliebenen Außenkunstwerke der documenta gesprochen oder geschrieben wird, fehlt in keiner Aufzählung das „Traumschiff Tante Olga“, das heute vor der Heinrich-Schütz-Schule zu sehen ist. Der Künstler Anatol (bürgerlich Karl-Heinz Herzfeld, 1931–2019) hatte das Boot in Dangast (Landkreis Friesland) gebaut und 1977 zur documenta 6 auf dem Wasserweg über Nordsee, Weser und Fulda nach Kassel ziehen lassen, wo es mitten auf der Karlswiese seinen Platz während der Ausstellung bekam.

Aber ist die „Tante Olga“ wirklich ein documenta-Beitrag von Anatol gewesen? Eine, die es wissen muss, ist Dr. Ute Dreckmann. Sie ist Autorin einer Anatol-Biografie, die bisher noch nicht erschienen ist und für die Dreckmann einen Verlag sucht.

Mein Kassel: Wie steht es denn nun um das „Traumschiff Tante Olga“, war das nun ein Beitrag zur documenta oder nicht?

Dreckmann: Nein, das war nicht Anatols Beitrag. Der richtige Beitrag Anatols war „Der Afrikaner – Mustafas Traum“. Damit hatte er sich auch beworben für die Teilnahme. Das war ein ausgehöhlter Baumstamm aus Sipo-Mahagoni-Holz mit einem Durchmesser von 2,40 m und einer Höhe von drei Metern. Darin konnten gut mehrere Menschen nebeneinander sitzen. Der Stamm stand vor dem Fridericianum.

Zum Beginn und zum Abschluss der documenta engagierte Anatol den Ghanaer Ritualtrommler Mustapha Tettey Addy und dessen Gruppe „Ehimomo“ zu einem Konzert. Aus dem Baumstamm heraus trommelte Mustapha eine Botschaft an seine Mutter in Afrika.

Gibt es denn den Baumstamm noch?

Ja, der existiert noch. Der steht heute vor Anatols ehemaligem Atelier auf dem Gelände des „Museum Insel Hombroich“ in Neuss. Der Baum steht heute auf einem Backsteinring, um nicht zu verfaulen. Ich finde das nicht so schön, aber Anatol hat dem noch zugestimmt.

Das ist das „Traumschiff Tante Olga“ an der Heinrich-Schütz-Schule – vom Graf-Bernadotte-Platz gut zu sehen.

© Harry Soremski

Und das Schiff?

Die Idee, mit einem eigens zu dem Zweck von ihm gebauten Boot zu einer Ausstellung zu fahren, hatte er schon lange. 1973 wollte er mit einem Einbaum von Düsseldorf über den Rhein und die Ruhr bis Bochum paddeln. Dort war er zu einer Ausstellung im Bochumer Kunstverein eingeladen. Die Fahrt mit dem Einbaum sollte Teil der Aktion/Ausstellung sein. Mit diesem Einbaum, genannt „Das blaue Wunder“, hat er dann Joseph Beuys am 20. Oktober 1973 von dessen Wohnort in Oberkassel über den Rhein zurück zur Kunstakademie Düsseldorf gebracht. Die Fahrt nach Bochum war Anatol dann aber doch zu gefährlich. „Das blaue Wunder“ wurde mit einem Transporter nach Bochum gebracht.

Die Idee zur „Tante Olga“ entstand ja bekanntermaßen in Dangast. Wie kam es denn, dass das Boot dann bei der d6 an Land ging?

Anatol hatte Harald Szeemann, dem Kurator der d5, gesagt, dass er beim nächsten Mal mit ‘nem Boot kommen wolle. Das war natürlich scherzhaft, denn wer nimmt schon zweimal nacheinander an der documenta teil? Der Leiter der d6, Manfred Schneckenburger, hat Anatol dann gefragt, was denn nun mit dem Schiff sei. Da sah sich Anatol gezwungen, jetzt auch ein Boot zu bauen.

Wie war denn Anatols Einstellung zum „Traumschiff“ später?

Er hat danach immer von der „Tante Olga“ erzählt. Anatol war sehr kommunikativ und die Geschichte von dem Boot, die nahm er in jeden Vortrag auf. Ich kenne mittlerweile fünf oder sechs Versionen von der Fahrt nach Kassel.

Wie wichtig war denn die Zeit in Dangast für ihn?

Anatol hat immer gesagt, Dangast sei seine zweite Heimat. Er ist ja in Ostpreußen aufgewachsen und als er das erste Mal in Dangast war, erinnerte ihn das alles sehr an Ostpreußen. Die Menschen dort gefielen ihm gut. Mit den Tapkens, die ihm den Saal des Kurhauses als Atelier zur Verfügung stellten, war er befreundet. Er war jede freie Minute in Dangast. Und da gibt es noch einen documenta-Bezug: Bei der documenta 7 im Jahr 1982 gab es in der Karlsaue von Anatol den Beitrag „Rapsfeld Nord-Süd“. 13 Findlinge auf einem gelb blühenden Rapsfeld. Diese Steine hat Anatol zum großen Teil in Dangast behauen. Sie stehen heute ebenfalls auf dem Gelände des „Museum Insel Hombroich“.

Dr. Ute Dreckmann, geboren 1950 in Bochum, Studium der Kunstgeschichte, Archäologie Philosophie, Soziologie und Rechtswissenschaft an der Ruhruniversität Bochum. Wissenschaftliche Tätigkeit am Kunstmuseum Bochum, am Westfälischen Industriemuseum Dortmund, Zeche Zollern II/IV und bei der Stiftung Insel Hombroich, Neuss. Freiberufliche Arbeit als Kunstberaterin, Rhetorik- und Kommunikationstrainerin. Fünf Jahre für die FDP Landtagsabgeordnete in NRW.

© Privat