Das Staatstheater Kassel ist ein Mehrspartentheater, das zentral am Friedrichsplatz gelegen ist und ein Opernhaus sowie ein Schauspielhaus umfasst. Ergänzend wird eine kleine Bühne im Fridericianum (Theater im Fridericianum / tif) bespielt. Die lange Tradition des Theaters in Kassel verkörpert das unmittelbar benachbarte Ottoneum, das 1606 als erster fester Theaterbau Deutschlands eröffnet wurde und heute das Naturkundemuseum beherbergt. Träger des Staatstheaters sind zu annähernd gleichen Teilen das Land Hessen und die Stadt Kassel. Intendant des Staatstheaters ist seit August 2021 Florian Lutz.
Mein Kassel: Herr Lutz, das schöne Motto dieser Ausgabe von „Mein Kassel“ lautet „Glück“. Was bedeutet für Sie Glück, privat und auch in Ihrer Arbeit?
Lutz: Im Moment empfinde ich als Glück die Momente von Gemeinsamkeit mit anderen Menschen, sei es im privaten Kontext mit meiner Tochter, meiner Lebensgefährtin oder mit Freunden. Oder sei es im beruflichen Kontext, mit Menschen gemeinsam etwas hinzubekommen. Und wenn das gelingt, so wie es jetzt in meiner Wahrnehmung zu dieser Spielzeiteröffnung mit der Rauminstallation „Pandaemonium“ und Produktionen wie „Tosca“ oder „Wozzeck“ gelungen ist, dann ist das schon sehr beglückend.
Die Eröffnungspremiere mit der von Ihnen inszenierten und von Francesco Angelico dirigierten Alban-Berg-Oper „Wozzeck“ ist ja vom Publikum und der Kritik deutschlandweit äußerst positiv aufgenommen worden. Ist es ein besonderes Glück, wenn die Reaktionen so gut sind, oder ist es das größere Glück, wenn Sie selbst mit Ihrer Arbeit zufrieden sind?
Das sind ganz verschiedene Aspekte, die aber nie ganz zu trennen sind. Jetzt ist es erstmal eine neue Erfahrung, dass man es bereits als beglückend empfindet, wenn in Zeiten der Corona-Pandemie überhaupt Theater stattfindet. Und natürlich ist es dann, wenn man selbst als Regisseur an der Produktion arbeitet, noch beglückender, dass man gemeinsam etwas hinbekommt, was vielleicht sogar über das Geplante hinauswächst. Und wenn die große Mehrheit aller Beteiligten so enthusiastisch mitzieht, dann macht das noch mehr Spaß. Das Entscheidende war für uns allerdings, dass die Produktionen unserer Eröffnung zu einem großen Erfolg wurden und die Zuschauerinnen und Zuschauer so begeistert mitgegangen sind.
Sie sind die erste Spielzeit in Kassel, haben allerdings auch eine längere Vorbereitungsphase gehabt. Wie sind Sie hier angekommen, wie fühlen Sie sich in dieser Stadt?
Ich bin am Freitag, den 13. März 2020 nach Kassel gezogen. Das war einerseits ein glücklicher Tag, weil wir eine wunderschöne Wohnung im Vorderen Westen bezogen haben. Es war aber auch ein unglücklicher Tag, weil es der Tag des Lockdowns war, als in Hessen der Pandemiefall ausgerufen wurde. Wir wollten eigentlich die neue Stadt entdecken, die Kneipen, die Kulturinstitutionen und die Infrastruktur. Und vor allem auch die Menschen, mit denen zusammen und für die wir dann Theater machen sollten. Stattdessen haben wir zuerst eine Seite der Stadt entdeckt, die wir wahrscheinlich sonst nicht so schnell kennengelernt hätten. Nämlich die Naturschönheiten, die großen Parks, die Dönche, den Staatspark in der Aue direkt vor dem Theater oder den Bergpark Wilhelmshöhe.
Das Kasseler Theater hat ja nicht nur als Staatstheater eine lange Tradition, sondern davor schon als Kasseler Hoftheater mit bedeutenden Figuren wie Louis Spohr. Wie geht man so eine Intendanz an? Welche Rolle spielt die Tradition eines Hauses, und an welchen Punkten muss sich das Theater neu erfinden?
Einer der Aspekte, die ich am Kassel Theater sehr schön finde, ist diese extrem lange Tradition als älteste feste Bühne nördlich der Alpen. Und als Standort eines der ältesten Orchester in Deutschland. Gleichzeitig spiegelt sich im jetzigen Theatergebäude auch der Wunsch nach Zeitgenossenschaft. Es wurde nach dem Krieg bewusst ein damals sehr moderner, zur Stadt hin sich öffnender Theaterbau entwickelt. der vielleicht für die neu gegründete Bundesrepublik repräsentativ sein sollte – im Sinne einer Öffnung und Demokratisierung, auch der Modernisierung von Theater. Ich war auch sehr freudig überrascht von der Offenheit des Publikums hier. Viele Menschen, gerade auch alt eingesessene Zuschauerinnen und Zuschauer, haben mir zum Intendanzwechsel gespiegelt: Wir waren glühende Fans von Ihrem Vorgänger Thomas Bockelmann und dem, was er hier gemacht hat mit seinem Team. Und jetzt freuen wir uns gerade deswegen darauf, dass es am Theater neu weitergeht.
Als Verbindendes der ersten beiden Musiktheater-Premieren, Alban Bergs „Wozzeck“ und Giacomo Puccinis „Tosca“, nannten Sie einmal das Agieren des Staatsapparates, das in beiden Stücken Thema wird. Ist es ein Prinzip ihrer Arbeit, wichtige Werke des Repertoires mit aktuellen Themen zu verbinden?
Das ist einer der Ansätze, ja. Aber als Erstes wollen wir in dem Fünfspartenhaus – Musiktheater, Schauspiel, Tanz, Jugendtheater und Konzert – natürlich eine große Bandbreite darstellen. Auch innerhalb der einzelnen Sparten mit den unterschiedlichsten Stilen, Genres und künstlerischen Handschriften. Zum Beispiel wird im Musiktheater im laufenden Spielplan mit neun verschiedenen Premieren auf der einen Seite klassisches Repertoire bedient – mit prominenten Titeln wie demnächst dem „Freischütz“ und der „Dreigroschenoper“. Gleichzeitig setzen wir auch auf ganz neue Stücke. Beispielsweise mit der Uraufführung der Oper „Blitze sprechen deutsch“ von Felix Leuschner und Dietmar Dath im Juli. Und natürlich war die Kombination von „Wozzeck“ und „Tosca“ zur Eröffnung interessant, weil da Tradition und Moderne aus der Perspektive des frühen 20. Jahrhunderts zueinander ins Verhältnis gebracht werden. Auf diesem Weg entstehen dann so etwas wie rote Fäden. Wir arbeiten ja nicht mit Spielzeitmotti, das wäre auch bei der Unterschiedlichkeit der Sparten eine sehr übergestülpte Konstruktion. Aber wir suchen schon innerhalb der Sparten und zwischen den Sparten thematisch und auch ästhetisch nach programmatischen Schwerpunkten. Genauso interessant ist da die Parallele von Bergs „Wozzeck“ und Brechts „Dreigroschenoper“. Beide gelangten in den 1920er-Jahren in Berlin zur Uraufführung, und beide greifen ganz ähnliche Themen auf – allerdings mit denkbar gegensätzlichen ästhetischen Mitteln.
Wie aktuell kann und soll Theater überhaupt sein?
Ich finde, Theater kann und sollte ganz aktuell sein. Was aber nicht heißt, dass Aktualität das einzige Kriterium sein muss. Wir haben, wenn es etwa um den Klimadiskurs geht, mit „Temple of Alternative Histories“ einen Kulminationspunkt am Ende der ersten Spielzeit. Es handelt sich um ein großes, spartenübergreifendes Projekt, wo wir auch versuchen mit „scientists for future“ und anderen Aktivistinnen und Aktivisten zusammenzuarbeiten, die mit uns gemeinsam dieses aktuelle Thema auf der Bühne verhandeln helfen. Wenn Sie dagegen „Schwanensee“, die Eröffnungsproduktion im Tanz, nehmen. Das ist ein Doppelabend mit zwei sehr unterschiedlichen Choreografien von der israelischen Choreografin Roni Chadash und von United Cowboys, einem niederländischen Kollektiv. Die haben sich mit dem klassischen Topos „Schwanensee“ und den ganzen Klischees, die dem anhaften, auseinandergesetzt, mit dem Bewegungsrepertoire und der klassischen Ikonografie mit den schönen weißen Kostümen. Aber was die Mittel betrifft, ist es eine sehr zeitgenössische Produktion. Denn natürlich handelt der Abend auch von heutigen Geschlechterverhältnissen und Beziehungen. Aber eben anlässlich eines sehr traditionellen Stoffs.
Eine andere Linie, die man entdecken kann, ist Partizipation. Für Bachs „Weihnachtsoratorium“, das im Dezember als Bühnenstück lief, wurden Kasseler BürgerInnen zum Mitsingen eingeladen. Mit „Tausend deutsche Diskotheken“ bespielen Sie verschiedene Bars und Nachtlokale. Wie wichtig ist es Ihnen, Menschen von außerhalb des Theaters zum Mitmachen einzuladen?
Ich glaube, das ist neben der Repertoirepflege und den neuen Stücken, die wir etablieren, die dritte große Säule unseres Spielplans. Dass wir uns in allen Sparten bemühen, in unsere Produktionen die Bürgerinnen und Bürger dieser Stadt mit einzubeziehen. Ein Beispiel: Der „Faust“, der bei uns ja „Gretchen“ heißt, ist eine theatrale Installation. Die Zuschauer sitzen ringsrum, während eine Darstellerin in der Mitte das Gretchen spielt. Dabei wird die Geschichte in sehr beeindruckenden Videoinstallationen aus der Perspektive von Bürgerinnen und Bürgern der Stadt erzählt. Darüber hinaus gibt es noch eine Reihe von Stücken, die versuchen, Menschen intensiver ans Theater zu binden oder überhaupt erst ans Theater heranzuführen. Andersherum eröffnen uns die Stimmen aus der Stadt, die Eingang in die Stücke finden, auch eine neue Perspektive. Das ist ein Prozess, der gerade, wenn man neu in der Stadt ist, dabei hilft, sich gegenseitig kennenzulernen.
Wir müssen leider noch auf das Thema Corona kommen. Wir haben ja seit einiger Zeit eine dramatische Situation. Das Theater plant mit einer durch Hygienekonzepte ermöglichten Normalität. Haben Sie auch einen Plan B, falls diese Normalität nicht zu garantieren ist?
Wir haben ja bisher hausintern ein Hygienekonzept mit Zugangsregeln und Tests verfolgt, das sehr viel vorsichtiger ist, als die Verordnungen uns zwingen, und das wir ständig weiterentwickeln. Das schließt nicht nur das Publikum ein, sondern auch alle Mitwirkenden. Dazu gehört auch die Maskenpflicht am Platz, die gelegentlich auf Widerstand stößt, aber von der großen Mehrheit der Zuschauerinnen und Zuschauer als ein Pluspunkt empfunden wird. Und wir haben, was man als Zuschauer nicht sieht, in allen Spielstätten und Foyers eine permanente, extrem gute Belüftungssituation mit einer CO₂-Kontrolle, die Alarm schlägt, sobald wir über 750 ppm CO₂-Gehalt landen, so dass jederzeit eine sehr gute Luftqualität gewährleistet ist. Wir haben weiterhin genügend Abstände, so dass ich behaupten würde, bei uns ist es sehr sicher und wir haben auch noch einen gewissen Puffer nach oben, falls die Einschränkungen stärker werden. Wenn es natürlich einen erneuten Lockdown geben sollte, können wir dagegen als Theater auch nichts tun. Aber im Moment habe ich die Hoffnung, dass die Einschränkungen sich in dem Bereich bewegen werden, den wir managen können.
Dazu wird es auch Glück brauchen. Das wünsche ich Ihnen und dem Staatstheater sehr.
Vielen Dank.
Florian Lutz (42)wurde in Köln geboren. Er studierte Philosphie, Kunstgeschichte und Musikwissenschaft in Berlin. Seit 2006 ist er als Opernregisseur tätig. Von 2016 bis 2020 war Lutz Intendant der Oper in Halle. Seit 2021 ist er Intendant des Staatstheaters Kassel. Er ist liiert und Vater einer Tochter.