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Experiment ergibt: Mehr Polizeipräsenz erhöht nicht das Sicherheitsgefühl

Experiment ergibt: Mehr Polizeipräsenz erhöht nicht das Sicherheitsgefühl

(Kassel). Wie fühlt es sich an, wenn dreimal pro Woche ein Streifenwagen vor der Haustür steht und Beamte durchs eigene Viertel laufen? Das haben Kriminologie-Experten der Justus-Liebig-Universität Gießen ein Jahr lang in Kassel im Rahmen eines bundesweit einmaligen Experiments untersucht – mit Unterstützung des Polizeipräsidiums Nordhessen und der Stadt. Hierfür wurde in verschiedenen Bereichen der Stadt Kassel die Polizeipräsenz erhöht und Menschen dazu befragt.

Dem Experiment vorausgegangen waren verschiedene nationale und internationale Befragungen. Laut Gießener Projektleiter Tim Pfeiffer hatten zuvor bei mehreren deutschlandweiten Befragungen jeweils rund zwei Drittel der Teilnehmenden angegeben, sich mehr Polizeipräsenz zu wünschen.

Die neuen Erkenntnisse in Kassel sehen anders aus: Polizeistreifen, die ohne konkreten Anlass unterwegs sind, führen dem Experiment zufolge nicht zu einem höheren Sicherheitsgefühl der Menschen – im Gegenteil. 

Zu viel Polizei für Bewohner „furchteinflößend“

„Paradoxerweise kann die Wahrnehmung von Polizeipräsenz furchtsteigernd auf die Menschen wirken, selbst wenn sie sich vorher genau diese Maßnahme zur Verbesserung der Sicherheit gewünscht haben“, erklärte Pfeiffer am Montag.

Das Ergebnis des Experiments zeige „einen Teufelskreis oder ein Präsenz-Paradoxon“, wie Pfeiffer heute bei der Vorstellung des Experiments betonte. So führe mehr Polizei zu einem Gefühl, dass mehr Probleme im direkten Umfeld existierten. Das wiederum führe zur Annahme, dass man mehr Polizei brauche. Werde das dann erfüllt, so lande man wieder beim Anfang.  

Ablauf des Experiments

Für das Experiment wurde das Stadtgebiet in 250 mal 250 Meter große Rasterzellen aufgeteilt. 20 davon wurden zu Beginn des Experiments zufällig ausgewählt, 20 weitere wurden als Kontrollzellen definiert.
Zudem gab es 2022 und 2023 zwei stadtweite Befragungen, in denen zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger zu ihrem Sicherheitsgefühl interviewt wurden. Ohne es den Befragten oder der Öffentlichkeit mitzuteilen, wurde die Polizeipräsenz in 20 Rasterzellen über zwölf Monate erhöht, in den Kontrollzellen hingegen nicht. In den ausgewählten Rasterzellen waren dreimal wöchentlich zwei Beamte etwa 15 Minuten auf Fußstreife, ihr Polizeiauto war währenddessen dort geparkt. 

Die Bestreifung ausgewählter Rasterzellen wurde durch zwei Polizistinnen und Polizisten durchgeführt. Ein Funkwagen wurde währenddessen im Gebiet geparkt. Foto: Stadt Kassel/Tim Pfeiffer (Uni Gießen)

Eine frühere Befragung brachte den Wunsch nach mehr Präsenz der Ordnungshüter hervor. In einem nicht veröffentlichten Abschlussbericht der Uni Gießen antworteten knapp 70 Prozent der Teilnehmenden auf die Frage, wie die Sicherheit in Städten die erhöht werden kann: „Mehr Polizeipräsenz“

Oberbürgermeister Sven Schoeller betonte in diesem Zusammenhang noch einmal den Sicherheitsaspekt. Dieser genieße hohe Priorität. „Wo Menschen sich sicher fühlen, hat das auch unmittelbar positive Auswirkungen auf die Lebensqualität einer Stadt“, befand Schoeller.  

Und auch Polizeipräsident Konrad Stelzenbach betonte die Effektivität einer gesteigerten Polizeipräsenz. Die Polizei setze bei der Bekämpfung von Kriminalität auf eine Mischung aus Prävention und Verfolgung. Wenn die Polizei sichtbar handle, so Stelzenbach, könne neben der Verhinderung von Straftaten das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung nachhaltig gestärkt werden. 

Für die Untersuchung wurde das Stadtgebiet in 250 Meter x 250 Meter große Rasterzellen aufgeteilt. Diese Ansicht zeigt exemplarisch eine Rasterzelle in Kirchditmold zwischen Hohnemannstraße und Zentgrafenstraße.
Bild © Stadt Kassel/Tim Pfeiffer (Uni Gießen)

Streifen gezielter einsetzen

Wie ein Polizeisprecher bei der Pressekonferenz heute erklärte, wolle man auf das aktuelle Experiment reagieren und Streifen gezielter an bekannten Hotspots einsetzen.

Das Experiment hat gezeigt, dass eine präventive Polizeipräsenz ohne Grund das falsche Mittel zu sein scheint, wie das Team rund um Pfeiffer feststellte. Sähen Menschen beim Blick aus dem Wohnungsfenster häufiger die Polizei, könne sich das negativ auf das Sicherheitsgefühl auswirken, so der Projektleiter. „Es scheint die Meinung vorzuherrschen: Wo Polizei ist, da passiert auch was.“ 

Wunsch und Wirkung

Ordnungsdezernent Heiko Lehmkuhl (CDU) zeigte sich überrascht von den Erkenntnissen, so werde die Präsenz der Stadtpolizei bei ihren nächtlichen Streifenfahrten von der Bevölkerung durchweg positiv bewertet. 

Auch der Gießener Experte Pfeiffer ist verwundert über das Ergebnis des Experiments in Kassel. Angesichts der Gespräche, die er vor Ort und telefonisch geführt habe, hätte er einen anderen Ausgang erwartet. Das Ergebnis zeige, dass „Wunsch und Wirkung nicht immer dasselbe sind“, sagte Pfeiffer. Es bedürfe nun weiterer fundierter Forschung.