Kassel ist eine bunte Stadt. Vor allem auch wegen der Menschen, die hier leben. Eigentlich Menschen wie Du und ich – und dennoch verbergen sich hinter genau diesen Personen oft Geschichten, die es sich zu erzählen lohnt. Genau das wollen wir tun. Mit unserer Rubrik „Lebensbilder“. Denn wir erzählen die Bilder des Lebens.
Tanja Podjaski
Nein, verstörte Blicke oder Anfeindungen – das erlebt Tanja Podjaski nicht mehr. Früher war das anders – aber vielleicht hat sich die Gesellschaft mittlerweile an die immer zahlreicheren Menschen gewöhnt, die ihren Körper nach eigenem Geschmack verändern wollen. Tattoos, Piercings, Silikonimplantate. Tanja Podjaski hat von allem was zu bieten. Nicht nur das: Sie verdient ihre Brötchen damit. „nakedsteel“ heißen die beiden Piercing-Studios, die sie in Kassel und Berlin betreibt. Das in Kassel läuft erst seit Oktober und muss sich noch etablieren, in Berlin brummt das Geschäft. Einfach mal reinschauen und sich piercen lassen – ohne Termin geht nix. Gut fürs Geschäft – und gut für die sieben Angestellten, die sie mittlerweile hat. Tanja ist in Kassel geboren. Ernst-Leinius-Schule in Harleshausen, Albert-Schweitzer-Schule (ASS) mit Abi. Sie war 13, als sie ihr erstes Tattoo bekam. Nicht jeder Lehrer konnte sich mit dem sich verändernden Äußeren der Schülerin anfreunden. „Ich habe gehört, dass ich manchmal Gesprächsthema im Lehrerzimmer war“, sagt sie. Dem Abi folgte ein Studium an der Uni in Kassel, sie hat einen Magister in Soziologie. Und arbeitete weiter am äußeren Erscheinungsbild. Heute, sie ist 30, gibt es nicht mehr viele freie Stellen an ihrem Körper. Und wenn, dann sind die höchstens groß wie ein Handteller. Auch das Gesicht ist zum Teil tätowiert, Piercings, Silikonimplantate beispielsweise an den Fingern und Goldkronen an Vorderzähnen kommen dazu. Wer mit ihr redet, merkt schnell, dass sich da jemand in sich wohlfühlt. Zurück zu den verstörten Blicken. In der Straßenbahn wird sie manchmal angesprochen. Leute haben Fragen zu ihrem Körperschmuck. „Und manche wollen einfach nur mal die Implantate anfassen.“ Nun ist Aussehen also ihr Job. Piercing, body modification (also beispielsweise Implantate) macht sie, auch wenn sich jemand die Zunge spalten lassen will – kein Problem. Ist dieser Trend Ausdruck für eine bestimmte Lebensform? Jein, wäre die Antwort. „Viele wollen einfach was mit ihrem Körper machen.“ Das geht. Bei Tanja.
Ulrike Cramer
© Milan Soremski
Eine Nachteule ist sie. Berufsbedingt. Wer in der Gastronomie arbeitet, hat notgedrungen einen anderen Lebensrhythmus als ein Finanzbeamter. Hinzu kommt, dass man in der Gastronomie auch mehr Menschen trifft als im Homeoffice bei der Finanzverwaltung. Ulrike Cramer arbeitet im „Fes“. Nebenbei, denn sie studiert auf Grundschullehramt. Und fällt auf – im Studium wie im „Fes“. Da, im „Fes“, würde sie mit den roten Haaren und den leuchtenden Augen wohl auch bei Dunkelheit noch für Leselicht sorgen. Was bringt die Zukunft? „Berufstechnisch“, sagt sie, „ist das gar nicht so einfach“. Hat sie in den Jahren nach der Schule gemerkt. Probierte über BWL, Kunstwissenschaften, Kunstgeschichte und Wirtschaftswissenschaften einiges. Aber sie will einen Alltag, „der einen zufrieden macht“. Nach einem Praktikum an einer Grundschule nun das Studium. Aus Überzeugung. Und eine eigene Familie, das wäre noch was. Da hat man mit 26 noch Zeit, oder?
Abiel Bereket
Auffällig – das ist zwangsläufig auch Abiel Bereket. Der ist Barkeeper, misst 1,98 Meter – und die 198 Zentimeter schließen nach oben mit einer auffälligen
Frisur ab. Ein Typ, von dem die Mitmenschen sagen, er sei immer gut gelaunt. Was als Barkeeper nicht ganz unwichtig ist: Er kommt schnell mit Menschen ins Gespräch, ist kommunikativ. Was wohl auch heißt, dass man seine Bestellung schnell los wird – und dann auch flott das Resultat vor sich stehen hat. Und berufsbedingt eben auch eine Nachteule. So eine, die man kennenlernen sollte. Aber: Wer jung ist, sollte irgendwann Ziele haben im Leben. Wie sieht es aus, Abiel? Irgendwann mal ein eigenes Restaurant wäre prima, meint er. Oder eine Bar.
Arya Atti
Als wir mit Arya Atti sprechen, besteht ihre Galerie „Violett“ in der Wilhelmshöher Allee 61 (gegenüber Glinicke) gerade seit etwas mehr als einem halben Jahr. Am 1. August 2021 hat sie eröffnet – und seitdem ist der kleine Laden mehr als ein Geheimtipp in der Kasseler Kunstszene. Hängt vielleicht auch mit der Vita der Betreiberin zusammen. Was heißt Betreiberin? Arya Atti ist selbst Künstlerin – und was für eine … Aber zurück zur Vita. Die 31-Jährige, die in Syrien geboren wurde, kam 2015 mit ihrer Familie nach Deutschland. Kunst, Malen, das hatte sie schon in ihrem Heimatland gemacht. Aber dort wurde und wird, sagt sie, nur realistische Kunst akzeptiert – und gelehrt. In Deutschland war sie zunächst in Bad Hersfeld in einem Asylbewerberheim. Malte unter anderem auf Gardinen, weil Asylbewerberheime in der Regel weder Farben noch Leinwand anbieten. Der Kunstverein bekam Wind von dem Talent der jungen Frau, stiftete das, was man zum Malen braucht: Leinwand und Farbe eben. Nach Kassel kam sie dann wegen der Kunsthochschule. Wurde konfrontiert mit völlig anderen Sichtweisen, mit Installationen etwa oder Konzeptkunst. „Meine Kunst hat sich verändert dadurch“, sagt sie heute. Sie malt anders – und immer noch ist in der Galerie ein Bild zu sehen, das sie auf einer Gardine gemalt hat. Es zeigt, umgeben von gemalten Rosen, Arya Atti und ihre mittlerweile sechsjährige Tochter Lorin Ebrahim, die in Deutschland geboren wurde. Arya ist alleinerziehend und das Bild sagt etwas über das Verhältnis der beiden. Die strahlenden Augen des Kindes wirken auf die Mutter, geben Kraft, Inspiration. Im Rosenmeer.Kürzlich war Aryas Mutter zu Besuch in Kassel, der Rest der Familie lebt in Köln. Die Mutter, sagt Arya, versteht nicht, was die Tochter macht. Kann mit der Kunst nichts anfangen – was Arya schade findet, aber nicht ändern kann. Dabei können zunehmend andere etwas mit ihren Werken anfangen. Beispielsweise bei der jetzt im April zu Ende gehenden Ausstellung
„Revival“ in Bad Hersfeld.