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STALLUPÖNEN, unerreichbar?

STALLUPÖNEN, unerreichbar?

Im Kasseler Stadtteil Wehlheiden gibt es einige Straßen, die nach Orten in Ostpreußen benannt sind. So die Allensteiner Straße, die Marienburger Straße, die Neidenburger Straße – und auch die Stallupöner Straße. Letztere ist eine, um deren Benennung man eine besondere Geschichte erzählen kann.

Muss man in heutigen Zeiten Mut haben, um die Traditionen einer Landsmannschaft und deren Untergruppierungen fortzuführen? Mehr als 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs? Dr. Gerhard Kuebart ist Vorsitzender der Kreisgemeinschaft Ebenrode – wie die Ortsbezeichnung für Stallupönen ab 1938 lautete. Und er findet, dass gerade in heutiger Zeit das Andenken an die verlorene Heimat ungezählter Menschen wichtig ist. 1.200 Mitglieder hat sein Verein, der zur Landsmannschaft Ostpreußen gehört. Ziemlich überaltert – aber in Pandemie-Zeiten, sagt der 1941 in Stallupönen geborene und in Lemgo wohnende Psychologe, hatten auch viele Jüngere Zeit und Interesse, mal über die Herkunft der eigenen Familie zu forschen. Belebung also in den landsmannschaftlichen Vereinigungen. 

In Kassel und Nordhessen gibt es viele Menschen, die selbst oder deren Vorfahren aus Ostpreußen stammen. 

Die ehemalige CDU-Landtagsabgeordnete Eve Rotthoff, deren Familie aus Stallupönen stammt und die in der Nähe des Ortes geboren wurde, will dafür sorgen, dass eines, was Kassel und die Ortschaft oder auch den Kreis dort besonders verbindet, nicht in Vergessenheit gerät. Es gibt nämlich, ein Info-Schild unter dem Straßennamen verrät das, eine Patenschaft zwischen der Stadt an der Fulda und dem kleinen Städtchen in Ostpreußen.

Eine sehr alte Verbindung, wie auch Kuebart sagt. Kurz nach Beginn des Ersten Weltkrieges marschierten russische Truppen in Ostpreußen ein und fügten den Deutschen empfindliche Niederlagen bei. Dabei, so Kuebart, wurden viele Ortschaften erheblich zerstört. Erst nach der Schlacht bei Tannenberg wendete sich das Blatt.

Die Truppen, die dann Stallupönen wieder befreiten – das waren Regimenter mit Kasseler Soldaten. Insgesamt führte die Entwicklung in Ostpreußen dazu, so Kuebart, dass man zum Wiederaufbau der Ortschaften von Städten im Reich, die unzerstört geblieben waren, einforderte, den Menschen im Osten zu helfen. So entstand dann 1915 die Städtepatenschaft, die bis heute existiert. Wenn auch der Ort selbst mittlerweile zu Russland gehört und Nesterow heißt (benannt nach einem russischen Offizier, der beim ersten Vorstoß der Roten Armee in Ostpreußen am 20. Oktober 1944 gefallen war).

In Stallupönen bewirkte die Patenschaft auch durch die finanzielle Hilfe einiges: Neue Häuser wurden mit Hilfe aus Nordhessen gebaut – die dazugehörige Straße trug den Namen „Kasseler Straße“. Was naturgemäß heute nicht mehr so ist.

Die Tatsache, dass in den schwierigen Zeiten nach dem Zweiten Weltkrieg Stallupönen quasi unerreichbar war, hinderte die Verantwortlichen jedenfalls nicht daran, die Patenschaft 1954 zu erneuern, auf den gesamten Kreis Ebenrode und auch die ehemaligen Bewohner, die geflohen waren, zu erweitern.

Die Kasseler Straße in Stallupönen mit dem Kasseler Baublock (links).
© Kreisgemeinschaft Ebenrode/Stallupönen e.V.

In Kassel sieht man keinen Grund, die Patenschaft zu ignorieren. Oberbürgermeister Christian Geselle schreibt auch mal ein Grußwort für den Heimatbrief, das 300-jährige Gründungsfest der Stadt Stallupönen wurde im Frühjahr 2022 in Kassel gefeiert. Im Stadtarchiv gibt es Bestände, die die Patenschaft dokumentieren. 

Aber die über 1.200 Mitglieder der Kreisgemeinschaft haben gerade in jetziger Zeit ein Problem: Die Heimat oder die Heimat der Vorfahren zu besuchen. Der russische Angriff auf die Ukraine macht touristische Exkursionen nach Ostpreußen so gut wie unmöglich. Was auch auf die Hilfslieferungen für die deutschstämmige Bevölkerung zutrifft.

Ostpreußen, Stallupönen – wieder einmal unerreichbar. Ist das eine Bedrohung für die Landsmannschaft? Kuebart sieht das nicht so. Durch das geschilderte neu geweckte Interesse bei Jüngeren sagt er: „So wird sich der Verein noch lange halten können.“

Mut zur Verständigung

© Frank Preuss

Etwa acht Millionen Menschen mit deutschen Wurzeln haben durch den Zweiten Weltkrieg ihre Heimat verloren – Heimatvertriebene. Ob Sudetendeutsche, Schlesier, Ostpreußen – viele von ihnen organisierten sich in Landsmannschaften, pflegten Brauchtum, Kultur, Sprache – und Kontakte in die verlorene Heimat. Im Jahr 2022 kann man sich die Frage stellen: Ist 77 Jahre nach Ende des Krieges das Thema noch aktuell? „Mein Kassel“ sprach darüber mit Professor Dr. Thomas Heberer, Stellvertretender Vorsitzender der Kreisgemeinschaft Stallupönen/Ebenrode.

Mein Kassel: Welchen Sinn macht in heutiger Zeit eigentlich noch die Arbeit von Landsmannschaften und deren Unterorganisationen, wie in unserem Fall der Kreisgemeinschaft Ebenrode?

Heberer: Das ist eine gute Frage! In der Tat geht die Zeit, in der Menschen Ostpreußen ihre Heimat nannten, allmählich zu Ende. Diejenigen, die dort noch geboren wurden und sich erinnern können, sind Ende 80 oder schon über 90 Jahre alt. Von daher steht heute weniger die Sehnsucht nach Heimat im Mittelpunkt als das Moment der Erinnerungskultur. Über Jahrhunderte haben Menschen dort gelebt und gearbeitet und mit ihrem Wirken Wissenschaft, Kultur und Wissensproduktion global befruchtet. Denken wir nur an Immanuel Kant, Käthe Kollwitz, Nikolaus Kopernikus, Johann Gottfried Herder und eine große Zahl von Nobelpreisträgern. Königsberg galt lange als ein Ursprungsort des deutschen Liberalismus und der deutschen Demokratie. Zugleich war Ostpreußen über Jahrhunderte ein Einwanderungsland für Glaubensflüchtlinge aus ganz Europa. Von daher war es auch ein multiethnisches Gebilde, das mit den umliegenden Ländern in engem Austausch stand: mit Polen, Russland und dem Baltikum. Von daher ist es fester Bestandteil nicht nur der deutschen, sondern auch der europäischen Geschichte. Die Erinnerung an dieses Erbe sollten wir wachhalten und im Verein mit den heutigen Bewohnern bewahren.

Die Kasseler Patenschaft mit Stallupönen ist über 100 Jahre alt, auch die Erneuerung dieser Patenschaft liegt schon beinahe 70 Jahre zurück. was spricht für die Aufrechterhaltung?

Die bisherige Patenschaft war mit Krieg und Kriegsfolgen verbunden. Für die Zukunft wäre zu wünschen, dass diese eine friedensfördernde Funktion übernimmt, das heißt mit dem jetzigen Ort. Zwar mag dies aufgrund des russischen Angriffs auf die Ukraine momentan utopisch erscheinen. Aber es werden wieder andere Tage kommen und dann wird eine Patenschaft mit Nesterow Sinn machen, etwa im Hinblick auf gemeinsame Förderung von Erinnerungskultur und kulturellen Austausch.

Ostpreußen ist für diejenigen, die dort selbst noch gelebt haben und die jetzt schon ein hohes Alter haben, sowie deren Nachfahren in diesen Zeiten vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges unerreichbar weit weg. Macht dieser Umstand das Erinnern nicht besonders schwer und gleichzeitig besonders wichtig?

Ich gebe Ihnen recht. In der jetzigen Situation ist Erinnern schwierig. Aber wenn wir in der Zukunft ermöglichen, dass eine erfolgreiche Aussöhnung in Friedenszeiten die heutigen Bewohner Ostpreußens und Deutsche wieder stärker zueinander führt, dann handelt es sich um ein friedensstiftendes Projekt, das zum gegenseitigen Verstehen und zum kulturellen Gedächtnis beider Städte beiträgt.

Was können Landsmannschaften tun, um ihre Arbeit für jüngere Generationen attraktiver zu gestalten?

Es ist sicher nicht einfach, junge Generationen für diese Arbeit zu gewinnen. Gerade unter den gegebenen Umständen, wo wir auf unabsehbare Zeit nicht dorthin fahren können und die gegenseitigen Ressentiments enorm gewachsen sind. Aber familiäre Erinnerungskulturen sind standhaft. Sie werden auch jüngere Generationen erfassen, die sich nicht nur ihrer Herkunft gewahr werden, sondern auch einen Beitrag zur Völkerverständigung leisten wollen. Dabei bleibt die menschliche Begegnung zentral, und sie wird auch irgendwann wieder möglich sein.

Welche Verbindung haben Sie als gebürtiger Hesse eigentlich nach Ostpreußen?

Mein Großvater mütterlicherseits stammt aus dem Kreis Stallupönen, der später Ebenrode hieß. Er machte in Berlin eine Gerberlehre und gründete in Offenbach eine Lederwarenfabrik. Meine Mutter war des Öfteren bei der Familie ihres Vaters gewesen und in starkem Maße beeindruckt von der Region und ihrer natürlichen und kulturellen Vielfalt. Sie hat mir und meinen Geschwistern immer wieder von Ostpreußen erzählt und gesagt, wir dürften unsere Vorfahren und deren Schicksal nie vergessen. Denn unsere Vorfahren wurden 1732 als Protestanten vom Bischof von Salzburg mit über 20.000 Glaubensbrüdern und -schwestern ausgewiesen, und die Mehrheit davon erhielt vom preußischen König Land und alles Notwendige, um sich dort heimisch zu fühlen. Ein nicht unerheblicher Teil dieser Glaubensflüchtlinge fand Zuflucht im Kreis Stallupönen. Diese Erinnerung ist fester Teil unseres familiären Gedächtnisses und hat mich bewogen, in der Kreisgemeinschaft aktiv zu sein.

Thomas Heberer (geboren 1947 in Offenbach, verheiratet, zwei erwachsene Kinder) ist Seniorprofessor für Politik und Geschichte Chinas an der Universität Duisburg-Essen. Er ist Stellvertretender Vorsitzender der Kreisgemeinschaft Stallupönen/Ebenrode. 2020 hat er das Buch „Ostpreußen und China. Nachzeichnung einer wundersamen Beziehung“ verfasst, das mittlerweile auch in russischer und in chinesischer Sprache erschienen ist.