Now Reading
Vorwort: Kassel – Kunstmetropole documenta-Stadt

Vorwort: Kassel – Kunstmetropole documenta-Stadt

Der Ruf als Kunststadt ist Kassel unauslöschlich eingeprägt. Schon Hessens Fürsten türmten im Bergpark am Stadthorizont eine künstliche Naturkulisse auf, gründeten mit der „Académie de Peinture et de Sculpture de Cassel“ die Kunsthochschule und schufen im 1779 eröffneten Fridericianum, einem der frühesten Museumsbauten Europas, Raum für kostbare Sammlungen. 

Das Fridericianum, heute Ort für zeitgenössische Kunst, ist seit 1955 zugleich Keimzelle und Herzkammer aller documenta-Ausstellungen, die aus dem öffentlichen Leben Kassels nicht mehr wegzudenken sind. Eine Achse von documenta-Werken, die vom Kulturbahnhof bis zur Fulda reicht, beginnt mit Jonathan Borofskys „Man walking to the sky“, ruft mit Olu Oguibes Obelisken und Thomas Schüttes „Die Fremden“ Flüchtlingsschicksale ins Gedächtnis oder erinnert mit Claes Oldenburgs „Spitzhacke“ an den Wiederaufbau der zerstörten Stadt nach dem Krieg.

Dabei gibt die wiederkehrende, oft skandalumwitterte Kunstschau längst den Rhythmus einer alternativen Zeitrechnung vor: im Fünfjahrestakt von documenta-Jahr zu documenta-Jahr. Für jeweils 100 Tage verwandelt sie die Stadt in einen internationalen Ort der Begegnung. Wie ein Seismograph der Gegenwartskunst verzeichnet sie den Wandel künstlerischer Praktiken und kuratorischer Perspektive und inspiriert zugleich die einheimische Kunstszene.

Gespeichert sind diese Prozesse in den umfangreichen Beständen des ‚documenta archivs‘, das seit seiner Gründung im Jahr 1961 zu einem ständig wachsenden multimedialen Wissensort geworden ist. Die hier dokumentierten „Ausstellungsgeschichten“ erzählen von realisierten und utopischen künstlerischen Ideen, spiegeln gesellschaftliche Entwicklungen, die weit über das Feld der Kunst hinausreichen. Sie leben im bürgerschaftlichen Engagement, in wiederkehrenden Debatten und Kontroversen.

Dr. Birgitta Coers (Jahrgang 1970), Studium der Kunstgeschichte, Klassischen Archäologie, Byzantinistik, Geschichte und Philosophie in Marburg, Promotion über Pompeji in den Bildkünsten der Moderne. Seit Oktober 2020 nach verschiedenen Stationen Direktorin des documenta archivs der documenta und Museum Fridericianum gGmbH.