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Die Königsplatz-Treppe

Die Königsplatz-Treppe

Drei Worte umschreiben eine der kuriosesten Episoden der Kasseler Städtebaugeschichte. Der Platz selbst hat über die Jahrhunderte mehrfach sein Gesicht verändert, Anfang der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts sollte nun ein Entwurf des Hamburger Stadtplaners Professor Gustav Lange umgesetzt werden. Allerdings blieb am Ende von seinem Entwurf aus verschiedensten Gründen nicht mehr viel übrig – die „Treppe ins Nichts“ etwa in der Mitte des Platzes und ein Platanenring am Rand des Platzes. Vor allem die Treppe war in der Öffentlichkeit höchst umstritten. Der Volkszorn kochte dann 1992 besonders hoch, als der Leiter der documenta 9, Jan Hoet, Lange zum documenta-Künstler ernannte und die Treppe somit als documenta-Kunstwerk geadelt wurde.

Als 1993 die Oberbürgermeister-Wahl anstand, trat CDU-Kandidat Georg Lewandowski unter anderem mit dem Versprechen an, die Treppe abzureißen. Noch nie hatte es einen CDU-Oberbürgermeister in Kassel gegeben – im März 1993 aber hatte die CDU erstmals die Kommunalwahl gewonnen. Und schließlich trat mit Wolfram Bremeier der Amtsinhaber an gegen Lewandowski, der seit zwei Jahren im Landtag saß und vorher mal kurze Zeit Stadtverordneter gewesen war. Ein No-Name also – und No-Name Lewandowski gewann die Wahl im ersten Wahlgang am 4. Juli 1993 überdeutlich mit mehr als 60 Prozent. Besonders kurios in der Zeit danach: Beim Vertrag über eine parlamentarische Zusammenarbeit zwischen CDU und FDP auf der einen und der SPD auf der anderen Seite stimmte die SPD dem Abbau der Treppe aus Versehen zu.

Sein Wahlversprechen hinsichtlich der Treppe löste Lewandowski aber erst Ende August 2000 ein. Eine Aktion, die ihm, Rechtsdezernent Ingo Groß und Baudezernent Bernd Streitberger ein Gerichtsverfahren wegen Untreue einbrachte, das schließlich gegen Zahlung von Geldauflagen in unterschiedlicher Höhe eingestellt wurde.

Wie war das damals, als die Treppe in einer Nacht-und-Nebel-Aktion abgerissen wurde? 

„Mein Kassel“ hat die Uhr zurückgedreht und mit zwei Zeitzeugen gesprochen.

Erinnerungen an den Treppenabriss

Am Sonntag, 27. August 2000, war Kirmes in Röhrenfurth. Für Karl Wenderoth war die Feier früh am Tag vorbei. Marschbefehl vom Arbeitgeber, der Firma Regel in Baunatal: Der Kranführer solle sich sein Arbeitsgerät holen und unverzüglich zum Königsplatz in Kassel fahren. Um 17 Uhr werde er samt Arbeitsgerät erwartet. Nähere Instruktionen vor Ort, hieß es.

© Harry Soremski

„Man hätte sich eigentlich schon denken können, um was es ging“, sagt der gebürtige Röhrenfurther, der heute noch mit seiner Familie in dem Melsunger Stadtteil lebt, rückblickend. Wie auch immer: Wenderoth tat, wie ihm geheißen, am Ende waren es zwei Kranführer mit zwei Kränen, die sich auf den Weg machten, unterwegs noch ein heftiges Gewitter über sich ergehen lassen mussten.

Karl Wenderoth – hatte 2000 mit seinem Kran die Treppe am Haken.

© Horst Seidenfaden

Vor Ort dann jede Menge Betrieb. Bauzäune wurden errichtet, von Straßenbahnen war nichts zu sehen, die waren umgeleitet worden. Es schien eine lange Nacht zu werden, wie es aussah. Immer mehr Menschen versammelten sich auf dem Königsplatz, Schaulustige, Treppen-Gegner und auch Treppen-Befürworter. Die Situation blieb friedlich, spitzte sich aber dennoch zu. Auf der Treppe hatten sich irgendwann Leute versammelt, die den Abriss verhindern und partout nicht weichen wollten. Was tun? „Erst mal abwarten, haben wir gesagt.“ Diese Geduld hatte der Baggerfahrer einer anderen Firma nicht, er sagte laut Wenderoth: „Ich reiße untenrum schon mal was ab.“ Tat er auch und donnerte mit seinem Löffel dabei ein paar Mal heftig von unten gegen die Treppe. Folge: „Die sind alle fluchtartig von der Treppe abgehauen.“ 

Wenderoths Job: Er musste mit seinem Kran die Treppe anheben, damit Teile, die über die Schienen führten, abgenommen werden konnten.

Unterm Strich „ein Job wie jeder andere“. Am nächsten Morgen, beobachtete er, fuhren die ersten Straßenbahnen wieder durch die Königsstraße. Die Fahrer der Trams, die sahen, dass die Treppe weg war, hätten Beifall geklatscht.

Wenderoth beendete gegen 9 Uhr am 28. August seine Arbeit, stellte den Kran in Baunatal ab und fuhr nach Hause. Wo er einfach berichtete, man habe eben die Königsplatz-Treppe abgerissen.

Noch heute ist Karl Wenderoth (Jahrgang 1950) gelegentlich als Kranführer gefragt – es fehle halt an Personal. Mit der documenta hatte er, der 45 Jahre bei Regel beschäftigt war und 2015 in Ruhestand ging, schon in anderen Fällen zu tun gehabt. Die Skulptur „Terminal“ von Richard Serra baute er auf dem Friedrichsplatz auf. Den „Rahmenbau“ von Haus-Rucker-Co sogar zweimal. Die erste Installation musste abgerissen werden, erzählt er, weil das Material gerostet sei und der Ausleger sich verbogen habe. Die zweite hievte er mit seinem Kran an ihren jetzigen Platz.

Auch den Kopf vom Herkules hatte er schon am Haken. Aber das ist eine andere Geschichte …

© Harry Soremski

Am Anfang war das Wort – und das trifft auch auf Gerhard Fenges eigene Geschichte mit der Königsplatz-Treppe zu. Eines Tages, erinnert er sich, rief Oberbürgermeister Georg Lewandowski an. Ob man sich mal zu einem persönlichen und vertraulichen Gespräch treffen könne, wollte der Rathaus-Chef wissen. Man vereinbarte einen Termin.

Zeitzeuge Gerhard Fenge im Gespräch.

© Harry Soremski

Zu dem dann zur Überraschung Fenges, der damals Vorstandsvorsitzender des Bauunternehmens Hermanns AG war, auch Stadtbaurat Bernd Streitberger (CDU) und Bürgermeister Ingo Groß (SPD) hinzustießen. Also, hob Lewandowski laut den Erinnerungen Fenges an, zu seinem Wahlprogramm gehöre ja, dass er die Königsplatz-Treppe abreißen wolle. Ob er, Fenge, sich vorstellen könne, dass man die Treppe innerhalb einer Woche abreißen könne?

Fenge erinnert sich gut an seine Antwort. „Wir schaffen das. Aber Sie nicht.“ Seine Gesprächspartner hätten ihn damals im Jahr 2000 mehr als verwundert angeschaut. „War doch klar“, sagt Fenge heute, „wir hätten mit dem Abriss begonnen und dann hätte das Theater angefangen – bis hin zu möglichen rechtlichen Folgen, die den Abriss gestoppt hätten.“ Fenges Gegenvorschlag: Man wolle die Treppe in einer Nacht abreißen, dann schaffe man Fakten. „Da habe ich den Mund aber ein bisschen voll genommen“, meint er schmunzelnd im Rückblick.

Eines habe er dem OB noch mit auf den Weg gegeben: „Wir brauchen eine Abrissverfügung, für alle Fälle.“

Dann ging es an die Vorbereitungen. Man wählte einen Sonntag aus, weil da die Stadt nicht so belebt war und weil es da am einfachsten schien, die Straßenbahnen umzuleiten. Ein Zimmerer-Unternehmen aus dem Schwalm-Eder-Kreis stellte Personal ab, Fenge organisierte Lkw für den Abtransport, an jenem Sonntag im August wurde um 16 Uhr der Bauzaun weiträumig um die Treppe errichtet. Das Problem: Die Polizei war informiert – die wollte aber eine Abrissverfügung sehen. Und die hatte die Stadt schlichtweg vergessen, sagt Fenge. Abrissverfügung ausstellen am Sonntag? Eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit – aber irgendwann hatte der zuständige Amtsleiter den Hausmeister des Rathauses aufgetrieben. Der öffnete die Rathaus-Tore und nach einer Stunde hatte man das Papier in der Hand.

Auch Fenge erinnert sich noch gut an den Versuch einiger Kasseler Bürgerinnen und Bürger, den Abriss der Treppe zu verhindern: „Die haben sich an die Treppe gekettet“, erzählt er. Aber der Schlag mit dem Baggerlöffel von unten gegen die Plattform, gepaart mit einem heftigen Regenschauer – das Problem löste sich schnell.

Hinter dem Baugitter: Oberbürgermeister Georg Lewandowski beobachtet die Abrissarbeiten.

© Harry Soremski

Vom Restaurant „Da Bruno“ am Königsplatz, damals noch von der mittlerweile verstorbenen Gastronomen-Legende Toni Nadalet geführt, beobachteten Fenge und seine Frau Lieselotte den weiteren Gang der Dinge. Auch Lewandowski war später dort zu Gast und Nadalet, erinnert sich Fenge, gab aus Freude über den Treppenabriss ein Bier nach dem anderen aus.

Aber wer hat diesen nächtlichen Einsatz eigentlich bezahlt? Die Kosten, sie wurden sozusagen im Umlageverfahren getragen. 

Alle Anlieger des Platzes wurden gebeten, einen Zuschuss zu leisten – „alle haben gezahlt,“ weiß Fenge, „wir hatten genug Geld beisammen.“