Now Reading
Die Theaterlegende

Die Theaterlegende

Wie viele Rollen es genau waren, die sie verkörperte, hat sie nicht gezählt. „Mehr als 200 waren es auf jeden Fall“, sagt Eva-Maria Keller. Dass sie mitunter als „Urgestein des Staatstheaters“ bezeichnet wird, stört die Schauspielerin nicht. Nun, nach 40 Jahren, scheidet sie aus dem Kasseler Ensemble aus. Wobei es kein endgültiger Abschied ist: In Stücken wie Tschechows „Der Kirschgarten“, die in die nächste Spielzeit übernommen werden, wird sie als Gast weiterhin auf der Bühne stehen, vielleicht auch in der einen oder anderen Neuproduktion. 40 Jahre Engagement an ein- und demselben Theater – diese außergewöhnliche Schauspielkarriere beschrieb eine Journalistin mit den Worten: „Du bist die Sesshafte unter den Zugvögeln.“ 

Ich glaube, ich arbeite chaotisch

An ihre erste Kasseler Rolle, die der Erna in Ödön von Horváths „Kasimir und Karoline“, erinnert sie sich noch gut: „Ich habe diese Rolle geliebt, auch weil ich Horváths Denke mag“, sagt sie. „Erna ist eine besondere Figur, sie wird unterdrückt, ist voller Sehnsüchte, und dabei weiß sie so viel über das Leben.“ Ein toller Start in Kassel, auf den viele weitere Highlights folgten. Einen besonderen Platz nimmt dabei ihre Rolle als Ophelia in Jaroslav Chundelas „Hamlet“-Inszenierung von 1991 ein: „Weil ich die nicht in der traditionellen Weise gespielt habe. Wahnsinn ist nichts Schönes, Wahnsinn ist eine Art Revolution.“ Sie habe daher aus Ophelias Auftritt eine extrem wilde Szene gemacht, erinnert sich Eva-Maria Keller, die zu heftigen Publikumsreaktionen – positiven wie ablehnenden – führte. 

Immer wieder stellte sich ihr die Frage: „Wie entwickle ich eine Rolle, wie finde ich den roten Faden?“ Manchmal habe sie schon vor der ersten Probe eine feste Vorstellung, manchmal ist da zunächst nur ein Wust von Fragen. „Ich glaube, ich arbeite chaotisch“, sagt Eva-Maria Keller und lächelt. „Wenn ich merke, ich komme nicht weiter, suche ich Anregungen von außen, Filme, Bücher, Musik.“ Beim Zugang zu der Ophelia-Figur waren Elvira Bachs wilde Bühnenbilder ihr Aha-Erlebnis. „Ich begriff intuitiv: Das ist es!“ Wichtig bei der Suche nach dem Kern einer Bühnenfigur ist natürlich auch die Persönlichkeit des Regisseurs oder der Regisseurin: Was dominiert – ein großer Formwille oder kollektives Entwickeln? 

Wobei sich die Akzente der Theaterarbeit in den vergangenen 40 Jahren verschoben haben. Heute gehe es weniger um das Einfühlen in eine Figur als darum, sich selbst und die Figur auszustellen, sagt Eva-Maria Keller. Die Präsenz und die Persönlichkeit der Schauspieler stehe im Vordergrund. „Man kann so mit Formen spielen und die Zugänge wechseln.“ Allein in der abgelaufenen Spielzeit hat Eva-Maria Keller so unterschiedliche Rollen wie den Diener Firs in „Der Kirschgarten“, den Detektiv Frankie in einer Kneipe und die Mutter Dorothea in einem Stück über die Familie der Brüder Grimm verkörpert. 

In Kassel ist sie spätestens durch ihre Filmrolle als Miss Sophie in der nordhessischen Mundart-Version von „Dinner for one“ auch für Nicht-Theatergänger zur Ikone geworden (https://www.ardmediathek.de). Preise und Auszeichnungen wie zuletzt die Ernennung zur Kammerschauspielerin dokumentieren ihre besondere Stellung in der Kasseler Theaterszene. „Ich freue mich darüber, aber ich behänge mich nicht damit“, sagt Eva-Maria Keller. Und obwohl sie Kassel sehr liebgewonnen hat, wird sie nach dem Ende ihres Theater-Engagements nun nach Berlin ziehen. „Dort leben meine beiden Kinder und viele Freunde.“ In die Stadt an der Fulda wird sie jedoch regelmäßig zurückkommen – nicht nur, um auf der Bühne zu stehen.